Jahnstraße 12 (früher Wilhelmstraße 20)

Hier wohnte Alter im
Jahr 1933
Schicksal Bemerkungen
Jakob Gottschall,
geb. am 5. 5. 1864
69

deportiert am 1.9.1942 ins Getto Theresienstadt;
Todesdatum 12.9.1942
unten Todesfallanzeige aus Theresienstadt

Viehhandel;
1935 unfreiwillig nach Wiesbaden verzogen
Henriette (Settchen) Gottschall,
geb. Löwenstein
geb. 3.11.1865
gest. 18.4.1935
68   Ehefrau von Jakob;
Grab auf dem jüd. Friedhof C3/12
Emma Levi
geb. 10.11.1864
69   lt. Melderegister GG am 16.9.1935 abgemeldet; verstorben

Recherchen ergaben folgende Informationen über die Menschen und die Häuser, in denen sie wohnten:

Jakob Gottschall, geb. am 5. 5. 1864 stammt wohl aus dem Haushalt des Metzgermeisters Simon Gottschall, der 1905 als „Auszügler“ in der Schleierstraße 7 (= Helwigstraße) lebte und mit Esther Gottschall, geb. Löwenstein aus Schornsheim in Rheinhessen verheiratet war. Esther stirbt am 8. 7. 1911, selbst bereits verwitwet,  im Alter von 82 Jahren (Grab auf dem jüd. Friedhof). Deren Sohn Jakob heiratete ebenfalls eine Löwenstein mit dem Vornamen Henriette, genannt Settchen. Sie wird am 3. 11. 1865 in Schornsheim, geboren, stirbt am 18. 4. 1935 im Alter von 69 Jahren und ist auf dem jüdischen Friedhof in Groß-Gerau begraben (Grab C3/12). Jakob und Henriette heiraten 1892 und sind 1908 Inhaber der Hofreite mit Grabgarten in der damaligen Wilhelmstraße 20. Er betreibt einen Viehhandel.

Bevor der Witwer Jakob aus der Jahnstraße 20 von Groß-Gerau nach Wiesbaden in die Bertramstraße 10 ziehen muss, verkauft er 1935 nach dem Tode seiner Frau das Anwesen in der Jahnstraße. Er wird von Wiesbaden nach Frankfurt und von dort am 1. 9. 1942 nach Theresienstadt ins Ghetto deportiert. Sein Todesdatum ist der 12. 9. 1942

Welche Verwandten oder Kinder später in der Nachkriegszeit in die Erbfolge eintraten, ist unbekannt. Ebenso ist unklar, ob Hermann Gottschall, geb. am 13. 7. 1878 in Klein-Gerau, 1942 nach Auschwitz deportiert und für tot erklärt, und Rebekka Gottschall, geb. Kahn, geb. am 26. 1. 1886, 1942, nach Auschwitz deportiert und für tot erklärt, Verwandte der Groß-Gerauer Gottschalls in Klein-Gerau waren.

Am 1. 11. 1935 verkauft Jakob Gottschall als Alleinerbe seiner am 18. 4. 1935 verstorbenen Ehefrau Henriette = Settchen, geb. Löwenstein die Hofreite plus Grabgarten (Grundbuch Bd. IV, Bl./ 331) an den Obersteuerinspektor Jakob Berning und seine Ehefrau Elisabethe Margarete Anna Emilie, geb. Weber, für 15.000 RM inklusive des Mobiliars über den Immobilienhändler Jakob Klenk in Groß-Gerau. Der Einheitswert des Grundstücks liegt bei 16.200 RM, 1938 bei 19.000 RM. Der Verkehrswert liegt also um ca. 20 - 25% über dem Kaufpreis. Um die Erbfolge klarzulegen, findet sich in der Akte auch der Todesschein für Simon und Esther Gottschall.

Zum 8. 4. 1946 wird über die Jahnstraße 20 (Bd. IV / 331) Fl. I, 652 durch das Amt für Vermögenskontrolle und Wiedergutmachung in Darmstadt die Vermögenssperre verhängt und am 12. 10. 1949 verlangt die Jewish Restitution Successor Organization Grundbucheinsicht auf die früheren Eigentümer Eheleute Jakob Gottschall. Zunächst wurde keine Einigung erzielt. Zwei Jahre später tritt die Hessische Treuhandverwaltung GmbH in Wiesbaden für den Rückerstattungsantrag von Jacob und Henriette Gottschall ein. Die Eintragung einer Briefgrundschuld, die die Treuhand am 3. 4. 1952 beim Grundbuchamt Groß-Gerau beantragt, resultiert aus dem Vergleich vom 3. 4. 1952 des Landgerichts Darmstadt gegen die Eheleute Berninger, Jahnstraße 20: Die Immobilie bleibt im Besitz der Berningers. Zur Abgeltung aller Ansprüche aus dem Kaufvertrag vom 1. 11. 1935 in Verbindung mit den Rückerstattungsgesetzen leisten Berningers eine Zahlung von 12.000 DM plus 6% Zinsen ab dem 15. 5. 1952, in Raten zu 6000 DM bis dahin, den Rest in sieben Jahresraten zu je 800 DM auf ein Konto der Staatshauptkasse Wiesbaden. Dazu bestellen sie einen Grundschuldbrief über 6000 DM. Folgerichtig wird die Vermögenssperre am 19. 6. 1952 aufgehoben und die Erledigung durch Vergleich drei Tage später festgestellt.

Infolge des Antrags auf die Vereinigung der Flurstücke (652/86/100 und 652/88/100) verändern sich die Hausnummer in der Jahnstraße, die früher Wilhelmstraße hieß, erheblich: Die Wilhelmstraße 20 ist jetzt die Jahnstraße 12. Für sie wird 1977 auch eine Entschädigung nach dem Reparationsschädengesetz (RepG) – wegen Kriegsschäden (?) beantragt. Auch heute noch auffällig ist, dass die Häuser in der heutigen Jahnstraße 10 und 12 ursprünglich baugleich waren, die Jahnstraße 12 aber unter Verwendung ähnlicher Ziegelsteine nachträglich aufgestockt wurde. Im Nachbarhaus von Jakob Gottschall, in das 1935 das Ehepaar Berning als Eigentümer einzog, wohnte der Gerichtsvollzieher Johannes Lein mit seiner Ehefrau Georgine Pauline, geb. Nicolay und ihren vier Kindern. Georgine Pauline Lein starb am 19 1. 1931, Johannes Lein am 16. 8. 1940. sie hatten die Hofreite mit Grabgarten (Fl I, Nr. 653 „hinter der Kappel“ = Wilhelmstraße 18 = Jahnstraße 10 in den zwanziger Jahren erworben. 

Für die Lokalisierung des Gebäudes wichtig bleibt lediglich die Bemerkung in einem Kaufvertrag von 1980, dass schon 1952 mit dem Turnverein e.G. Groß-Gerau eine Abmachung getroffen wurde „über die Mitbenutzung der Grenzmauer und der Brandmauer des Hauses und des Stalles“ durch den TV „für Eingang und Garderobe der Turnhalle.“

Bei dem Haus handelt sich um die heutige Jahnstr. 12, früher 20. Die heutige Jahnstr. 10 war der Wohnsitz des ehemaligen Groß-Gerauer Gerichtsvollziehers, ehemalige Wilhelmstr. 18 und nicht in jüdischem Besitz. Leider ist nicht klar, welche Erben namentlich Ansprüche nach 1945 geltend gemacht haben, da zwar von einem Vergleich die Rede ist, der könnte aber auch zwischen der JRS und dem Rechtsnachfolger des Dt. Reiches stattgefunden haben bzw. dem Land Hessen.

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