Einzelschicksale

Familie Hirsch / Moritz Goldberger / Ludwig Goldberger / Sigmund Strauß / Emil Marx / Renata Schwarz, geb. Rosenthal / Menachem Kaufmann / Julius Sternfels


Firma H. Hirsch Söhne, Groß-Gerau, Branntweinbrennerei, Destillation, Likör- und Essigfabrikation. Anfang der fünfziger Jahre des 19. Jahrhunderts kam Anton Schudt aus Steinfurth in der Wetterau, Oberhessen, als Pächter auf die Großherzogliche Domäne Rheinfelden in Wallerstädten. Heyum Hirsch, der Ahnherr der Firma, der in Wallerstädten ansässig war, trat sofort mit ihm in Geschäftsverbindung. Die geschäftlichen Verbindungen entwickelten sich bald zu einem freundschaftlichen Vertrauensverhältnis. Heyum Hirsch vermittelte den Verkauf der landwirtschaftlichen Erzeugnisse der Domäne. Zu dem Hof gehörte auch eine Brennerei. Dank der kaufmännischen Gewandtheit des Heyum Hirsch konnte der Brennereibetrieb immer mehr erweitert werden. Da kam Heyum Hirsch der Gedanke, statt den Rohspiritus zu vertreiben, ihn selbst zu verwerten. Rasch entschlossen, ließ er einen seiner zwei Söhne die Likör-Destillation erlernen. Nach mehrjähriger Lehrzeit kam der Sohn zurück. So wurde dann im Jahre 1866 die Firma H. Hirsch Söhne gegründet. Sie verarbeiteten den auf Rheinfelden erzeugten Kartoffel-Spiritus erfolgreich.

Die Firma wuchs von Jahr zu Jahr. Man entschloß sich, das Geschäft nach Groß-Gerau zu verlegen. In der Frankfurter Straße neben dem Stadtgraben, günstig für die Abwasser-Einleitung gelegen, wurde eine Hofreite errichtet. Man erzeugte Branntwein und Liköre aller Art. Eine Essig- bzw. auch Weinessig-Fabrikation wurde angeschlossen. Eine Küferei wurde eingerichtet, ebenso eine Pferdestallung, damit man die Kundschaft der umliegenden Umgebung prompt beliefern konnte.

Nach dem Ableben der beiden Söhne von Heyum Hirsch übernahmen deren Söhne, die Vettern Heinrich und Hugo, das Geschäft. Mehrere Erweiterungsbauten wurden ausgeführt, die letzten im Jahre 1925 für den Essigbetrieb. Bereits im Jahre 1900 wurde beim Postamt Groß-Gerau der Telefonbetrieb eingerichtet. Die Firma Hirsch erhielt die Nummer 5.

Die Seele des Geschäfts wurde der fortschrittliche Heinrich Hirsch. Er ließ für sich ein Wohnhaus in der heutigen Bebel-Straße neben dem Finanzamt bauen. Im Jahre 1904 wurde er zusammen mit Karl Opel zum Vertreter des Kreises Groß-Gerau in der Großherzoglichen Handelskammer in Darmstadt bestimmt. Er wurde auch in den Gemeinderat gewählt, wo er die bürgerliche Vereinigung führte. Im Jahre 1918 war er als Beigeordneter ein geschickter Verhandler mit der französischen militärischen Besatzungsbehörde. Bei der Groß-Gerauer Volksbank hatte er den Vorsitz im Aufsichtsrat von 1924 bis zur Machtübernahme durch die Nationalsozialisten inne.

Frau Hirsch senior war aktiv in der Armenhilfe tätig. Wurde ein Arbeiterkind geboren, versorgte sie die Familie während des Kindbettes unentgeltlich mit Nahrungsmitteln aus der von den Hirschs geführten Küche. Eine Zeitzeugin, Frau Goldberger, erinnert sich, daß sie als Kind täglich zwei Essens-Tender bei Frau Hirsch für ihren tuberkulosekranken Vater abholte. Als 1923 die Baugenossenschaft gegründet worden war, die es auch den ärmeren Volksschichten erlauben sollte, in Eigenhilfe ein Häuschen zu bauen, wurde jeder Betroffene während der Zeit seines Hausbaus zusammen mit seiner Familie aus der Küche von Hirsch mit zwei warmen Mahlzeiten täglich versorgt.

Und dennoch:

In der zweiten Märzwoche 1933 drangen Groß-Gerauer Nationalsozialisten in die Wohnungen jüdischer Mitbürger ein und schlugen sie zusammen. So auch Heinrich Hirsch, Fabrikant, Vorstandsmitglied der Industrie- und Handelskammer, Aufsichtsratsmitglied der Volksbank, Vorstandsmitglied der jüdischen Religionsgemeinde, Vorsitzender des Verkehrsvereins, Träger der Goethe-Plakette und von 1919-1921 stellvertretender Bürgermeister von Groß-Gerau. Er wurde aus allen Ämtern entfernt, wurde mehrmals verprügelt und zog im Oktober von Groß-Gerau weg, um zu überleben. Selbst in seinem Schlafzimmer war er nicht sicher. SA-Männer sind nachts eingedrungen und haben auch vor seiner Frau Lina nicht halt gemacht. Ihr gelang es dann später, den Betrieb zu verkaufen (. . .) Bei der Reichstags"wahl" am 29. 3. 1936 wurde Heinrich Hirsch in der Liste derer, ,die nicht deutschen Blutes' sind, schon nicht mehr geführt, wohl aber seine Frau Lina. nach oben


Ludwig Goldberger (1.8.1919 - 2.1.1996), Arbeitersohn, Schule, Beginn und Abbruch einer Lehre aufgrund eines antijüdischen Innungsbeschlusses; Friedhofsdienst im israelitischen Friedhofsverband, dem achtzehn Ortschaften angehörten; Verlust von zweiunddreißig Familienangehörigen in verschiedenen Konzentrationslagern. Er wird im November 1938 unter entwürdigenden Umständen vom Marktplatz Groß-Gerau auf einem Viehtransporter zusammen mit anderen jüdischen Bürgern deportiert; KZ-Aufenthalt in Buchenwald; Flucht über Süd-Osteuropa und Italien; Dienst in der englischen Armee als Dolmetscher; Rückkehr in die alte Heimat nach 1945; Existenzgründung aus dem Nichts; Hilfe durch ehemalige Arbeitskollegen der örtlichen Zuckerfabrik. Er wartet trotz verschiedener Anstrengungen seit mehr als 40 Jahren vergeblich auf Unterstützung aus Mitteln der "Wiedergutmachung." Nach dem Krieg wurde er von seinen ehemaligen Freunden, den Genossen des "Reichsbanner" einer Organisation, die vor 1933 der SPD angegliedert war, mit großer Begeisterung aufgenommen. Er war der einzige überlebende Jude aus Groß-Gerau, der nach 1945 wieder hierher zurückgekommen ist. Viele Jahre lang kümmerte er sich um die Pflege des jüdischen Friedhofs neben dem Freibad, auf dem er auch beerdigt wurde. Anläßlich der Beschädigungen von Grabsteinen veröffentlichte die Heimatzeitung am 1.6.1963 folgenden Artikel:

Die Stadt half:
Die Grabsteine sind wieder aufgerichtet
Ein Gespräch mit Ludwig Goldberger über die Beschädigungen des jüdischen Friedhofs in Groß-Gerau

Gedankenlosigkeit und Übermut, und keine politischen Motive sind nach Meinung von Ludwig Goldberger die Uraschen für die am Wochenende bekannt gewordenen Zerstörungen auf dem jüdischen Friedhof in Groß-Gerau. Ähnliche Beschädigungen, die seit 1945 wiederholt aufgetreten sind, stellten sich nach Auffassung des Friedhofswärters bei aller Verwerflichkeit solchen Handelns als politisch harmlos heraus. Er könne sich nicht denken, sagte Goldberger, wer ein Interesse daran habe, die Friedhofsruhe jüdischer Mitbürger aus feindseliger Absicht zu stören.

"Ich habe die Frage eines Kriminalbeamten. ob ich in Groß-Gerau Feinde hätte, mit gutem Gewissen verneint", versicherte uns der nach dem Kriege mit der Pflege des jüdischen Friedhofes beauftragte Ludwig Goldberger und sprach zugleich sein Bedauern darüber aus, daß aus diesen unliebsamen Vorkommnissen nicht selten politische Schlüsse gezogen würden. Aus seiner langjährigen Tätigkeit als Friedhofswärter wisse er, daß die meisten Beschädigungen tatsächlich aus Gedankenlosigkeit begangen würden. Besonders im Sommer habe er wiederholt beobachten können, daß Kinder aus dem angrenzenden Schwimmbad auf den jüdischen Friedhof gegangen seien, um dort Unfug zu treiben. Es wäre wünschenswert, wenn Eltern und Lehrer ihre Kinder von solchem Tun durch eine nachdrückliche Belehrung abhalten würden. Oft genug habe er auch leere Bierflaschen von den Gräbern entfernt, die von Unbekannten einfach über die Mauer geworfen worden waren. Auch nach Bekanntwerden der jüngsten Beschädigungen seien von der Kriminalpolizei wieder leere Flaschen auf dem Friedhof gefunden worden. Auch das lasse sich mit gutem Willen abstellen.

Goldberger berichtete uns, wie er sich darum bemüht, die letzten Ruhestätten ehemaliger jüdischer Mitbürger in Ordnung zu halten. In jedem Jahr kamen Angehörige zum Teil aus Übersee, um die Gräber zu besuchen, und sie seien immer erfreut, sie in einem gepflegten Zustand vorzufinden. Erst wenige Tage vor den umfangreichen Zerstörungen, die zur Zeit noch von der Staatsanwaltschaft untersucht werden, sei der von Groß-Gerau in die USA ausgewanderte 74jährige Julius Strauß mit seiner Gattin in seiner Heimatstadt gewesen, um das Grab seines Vaters Emil Strauß zu besuchen. Der alte Mann habe die Kosten und Strapazen einer Flugreise auf sich genommen, weil er noch einmal das Grab seiner Eltern und seine alte Heimat sehen wollte. Vor seinem Rückflug in die Vereinigten Staaten schrieb Julius Strauß mit zitternder Hand eine Postkarte an Ludwig Goldberger und bedankte sich nochmals für die vorbildliche Pflege des Friedhofes. "Was bin ich so froh, daß der alte Herr nicht acht Tage später nach Groß-Gerau kam", sagte Goldberger. Das Bild, das sich ihm dann geboten hätte, wäre nicht dazu angetan gewesen, mit Dankbarkeit und Befriedigung nach Amerika zurückzukehren.

Herzliche Dankesworte fand Goldberger für Bürgermeister Martin, der sofort nach Bekanntwerden der Zerstörungen städtische Arbeiter damit beauftragte, beim Wiederaufrichten der umgeworfenen Grabsteine zu helfen. Dadurch sei es möglich gewesen, die schlimmsten Spuren der Beschädigungen schon in kurzer Zeit zu beseitigen. "Hoffentlich kommt das nicht wieder vor", sagte Ludwig Goldbergen und wir alle hoffen mit ihm, daß niemand sich mehr an dieser Ruhestätte unserer Mitbürger vergreift. Es wäre außerdem zu wünschen, daß es der Polizei gelingt, die Schuldigen zu ermitteln und zur Rechenschaft zu ziehen.

Es waren Kinder

Die Zerstörungen auf dem jüdischen Friedhof sind aufgeklärt worden. Wie von Anfang an vermutet wurde, sind die Grabsteine von Kindern umgeworfen und beschädigt worden. Es gibt also kein politisches Motiv. Durch voreilige und aufbauschende Berichte war der nun völlig entkräftete Verdacht genährt worden, daß es sich um antisemitische Handlungen handeln könnte. Wir werden in Kürze in der Lage sein, den Sachverhalt eingehend darzulegen. Einstweilen wollen wir es dabei belassen, unsere Leser davon zu unterrichten, daß die Angelegenheit eine harmlose Aufklärung gefunden hat.

(Heimatzeitung, 1.6.1963)

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Moritz Goldberger, der Vater von Ludwig Goldberger, wurde in Berlin ermordet und seine Frau kam in einem KZ um. Ein deutscher Soldat, der ihn vor dem Krieg persönlich kannte, traf 1943 Albert Kaufmann (den Vater von Menachem Kaufmann) in Bialistock, wo er als Zwangsarbeiter deutsche Soldaten desinfizieren mußte. Es ist anzunehmen, daß er dort ermordet wurde. Ein ähnliches Schicksal hatte auch seine Ehefrau. nach oben


Am 29.6.1939 zieht der letzte jüdische Bürger, Sigmund Strauß, genannt "Schachteljud", aus Groß-Gerau nach Frankfurt. Es war jener an einem Prostataleiden erkrankte Sigmund Strauß, der in den Pogromtagen dadurch gequält und zum Objekt billigster Späße gemacht worden war, daß man ihm den Katheter, dessen er zur Abführung des Urins bedurfte, zwei Tage lang verweigerte.

Dokument aus der Hessischen Landeszeitung vom 29.6.1939:


Der einzige Hebräer, der sich noch in der Kreisstadt herumtrieb, der Jude Strauß, allgemein unter dem Namen ‚Schachteljud' bekannt, ist nun endlich weggezogen. Dieser lästige Jude hat bis zuletzt versucht, bei den Volksgenossen seinen stets in einer Schachtel mitgeführten Dreck loszuwerden. Nun ist er nach Frankfurt ‚ausgewandert'. Damit ist Groß-Gerau judenfrei.
Die Stadt hat vor der Machtübernahme durch den Führer über 140 Juden beherbergt. Die Juden besaßen bereits im 13. Jahrhundert in Groß-Gerau einen Friedhof zwischen dem Galgenberg und dem Stadttor in der Nähe der heutigen Hassia-Käserei Petermann in der Helwigstraße. Sie mussten damals für jeden Rassegenossen, den sie begruben, einen Goldgulden an den Zentgrafen bezahlen. Nach der Französischen Revolution am Ende des 18. Jahrhunderts, die einen Sieg der Juden über die arische Bevölkerung darstellte, trat das Unglück ein, das unsere Vorfahren verhütet hatten. Groß-Gerau darf sich glücklich preisen, den letzten Juden losgeworden zu sein. Es ist interessant, festzustellen, dass sich im gesamten Kreisgebiet noch rund 120 Zionsverteidiger aufhalten. Aber auch diese letzten Reste werden bald der Vergangenheit angehören.

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Derartiger Sadismus scheint an der Tagesordnung gewesen zu sein. Man denke etwa daran, daß einem Bewohner eines Hauses am Sandböhl zur persönlichen Erniedrigung und zur "Freude" der Beteiligten, der kahle Schädel mit einem Kaktus traktiert wurde, dies geschah Emil Marx, und daß einer schwangeren Jüdin körperliche Gewalt angetan und ihr die Entbindung im damaligen Krankenhaus Groß-Gerau verweigert wurde. Diese Beispiele berichten Zeitzeugen. nach oben


Renata Schwarz geb. Rosenthal, Jahrgang 1926, die Tochter von Sally und Lina Rosenthal, die 1934 von Groß-Gerau nach Mainz übersiedelte, schreibt aus New Jersey, USA: "Ich war in der Volksschule Groß-Gerau der Diskriminierung eines Nazilehrers ausgesetzt, der auch meinen vorher freundlichen Mitschülern den Verkehr mit mir verbot und mich dauernd für nicht begangene Taten bestrafte und isolierte. Meine Leiden in der Schule stellten den Hauptgrund für den Umzug nach Mainz dar. Andererseits konnten meine Eltern auch nicht mehr ihr Geschäft weiterführen."

Mit dem Geschäft ist die Metzgerei in der damaligen Nr. 51 der Darmstädter Straße gemeint. Nach dem Zwangsverkauf des Geschäftes an den Gesellen der Metzgerei, Jakob Wiener, zu einem Billigpreis führte der Auswanderungsweg über Mainz, wo Rosenthals die Reichspogromnacht erlebten, über Bolivien nach USA. Alles Vermögen war verloren, das Leben gerettet. Renata Rosenthal hat ihre Eindrücke unter dem Pseudonym Renee Rosen in "It happened in three countries" beschrieben: "Am 1. April 1933 marschierten SA-Männer vor unserem Geschäft (in Groß-Gerau) auf und ab und ließen niemanden herein. Es gab aber nicht-jüdische Kunden, die durch den Garten kamen und trotzdem hintenherum kauften. Mein Vater wurde von der Gestapo verhaftet, weil er versucht hatte, trotz Berufsverbot an christliche Kunden Wein zu verkaufen. Ein Glücksfall, meine Mutter brachte es fertig, daß man ihn nach drei Tagen wieder freiließ. Wir mußten unser gesamtes Silber und unseren Schmuck abliefern . . . ." nach oben


Menachem Kaufmann (geb. 1921) berichtet: In der Schule wurde mir zwar nichts angetan, aber ab 1933 war doch eine große Änderung festzustellen. Wir hatten "Rassenunterricht", der von Rektor Görtz selbst erteilt wurde. Dort wurden Juden als rassenfremd und minderwertig dargestellt und als nicht dazugehörig bezeichnet. Niemals hatte der Rektor uns vorher unterrichtet. Aber auch diese Indoktrination änderte die Beziehung zu meinen Schulkameraden nicht besonders. Ich war zwar "anders", wurde aber von meinen Kameraden nicht belästigt. Im Schulhof wurden wir Juden manchmal beschimpft, aber niemals körperlich angegriffen. Meine Klassenkameraden standen mir oft zur Seite.

Während der Jahre 1930-1933 fühlte ich zu Hause die sich von Tag zu Tag vergrößernde Spannung. Umzüge der Parteien durchzogen auch die schmalen Geinsheimer Gassen. Kampflieder der SA, der Kommunisten und des Reichsbanners) hörte man tagtäglich. Rote Fahnen mit Hammer und Sichel, drei Pfeilen und dem Hakenkreuz wehten in den Gassen. Niemals werde ich das Lied der Nazis vergessen, das ich durch das offene Fenster meines Heimathauses in Geinsheim hörte:

"Wenn's Judenblut vom Messer spritzt,
dann geht's nochmal so gut,
schmeißt sie raus, die ganze Judenbande,
schmeißt sie raus aus unserem Vaterlande,
schickt sie wieder nach Jerusalem
und schneidet ihnen die Hälse ab,
sonst kommen sie wieder hem."

Dann kam der Boykott vom 1. April 1933. Ich kam von der Realschule aus Oppenheim nach Hause zurück. Ein SA-Mann stand vor unserem kleinen Laden, um Käufer abzuhalten. Aber sowieso kam fast niemand etwas kaufen. Geinsheim war schnell zur Nazihochburg geworden. Fast niemand sprach mit uns und wir waren schon 1933/1934 zu Ausgestoßenen in unserem Dorf geworden. Natürlich gab es auch Ausnahmen wie die Besitzer des Gasthauses "Zum Löwen", die Familie Mayer und auch andere, die heimlich mit uns die Beziehungen nicht abbrachen. Frau Mayer hat uns heimlich Lebensmittel zugesteckt. Als einige Monate später, nachdem wir Geinsheim fluchtartig verlassen mußten, meine Mutter mit dem Rad ins Dorf kam und von dem neuen Nazibürgermeister verfolgt wurde, hat Käthe Mayer sie in ihrem Hause bis abends versteckt. Käthe und meine Mutter waren Schulfreundinnen.

Ich kam zum ersten Mal im Jahre 1970 nach Geinsheim und Groß-Gerau zurück, nachdem ich fast 20 Jahre in der Armee Israels gedient hatte. Eine junge Generation wächst auf, die die NS-Zeit nicht miterlebt hat. Diese Generation wird zusammen mit unseren Kindern und Enkeln die Verbrechen der Nazis nicht vergessen, aber die schreckliche Gefahr des Rassenhasses begreifen. Menschen haben das Recht, "anders" zu sein. Die jüngere Generation muß begreifen, daß "anders" zu sein, "anders" geboren zu sein, kein Verbrechen ist. Diese Generation muß den Antisemitismus, der auch heute nicht ausgerottet ist, als Krankheit des Geistes, die ganze Menschengruppen angreifen kann, mit allen Mitteln bekämpfen. Nur so können Katastrophen, die schließlich auch das Deutsche Volk am Ende des Krieges und in den ersten Jahren der Nachkriegszeit heimgesucht haben, verhindert werden. nach oben


Julius Sternfels alias Leo Silberstein

Der Schriftsteller Ernst Glaeser (1902-1963), läßt seinen mit autobiographischen Zügen angereicherten Roman, den "Jahrgang 1902" in dem Städtchen Groß-Gerau spielen. Erschienen ist er 1928. Er fängt, obwohl fiktional, eine Fülle atmosphärischer lokaler Realität in der militaristisch judenfeindlichen Atmosphäre vor 1914 ein.

Reales Vorbild für die literarische Figur des Leo Silberstein war der 1901 in Erfelden geborene jüdische Schüler des heutigen Prälat-Diehl-Gymnasiums Julius Sternfels, dessen Namen im Schularchiv zu finden ist. Auf dem jüdischen Friedhof Groß-Gerau treffen wir auf viele Gräber der Erfelder Familie Sternfels.

Auszug aus dem Roman:

"Mir selbst waren die Juden, die ich kannte - besonders die älteren Männer -, zwar nicht Gegenstand des Spotts, wie vielen anderen Buben, die mit Vorliebe ihre Gesten kopierten, was meine Mutter nie geduldet hätte (außerdem fehlte mir dazu auch jede mimische Begabung) - aber sie waren mir auch nicht gerade sympathisch, weil ich sie, soweit ich das in unserem Städtchen beobachten konnte, zu jedem wahllos freundlich sah, selbst wenn sie wußten, daß es ihr Feind war. Ich nannte sie nach der Vokabulatur meiner jugendlichen Ehrbegriffe feige, obwohl mir diese Art ,Feigheit' eine andere schien als die gewohnte. Es schien mir eine Feigheit zu sein, die nicht fortlief, im Gegenteil, eine, die dablieb und den Mann zwang, die schwierigsten Situationen zu ertragen, aber anders als es ein Held tut...

Vor der Front steht der kleine Leo Silberstein und heult in militärischer Haltung. Nur seine Hände bewegen sich wie aufgeregte Vögel, die nicht fliegen können. [Sportlehrer] Brosius betrachtet ihn mit spöttischem Mitleid. Er freut sich an der zimperlichen Not des Knaben. Plötzlich wirft er sich in seine Amtshaltung zurück, klemmt den Zwicker in die normale Lage und diktiert: ,25 Kniebeugen für Silberstein, weil er das dritte Mal beim Abzählen geschlafen hat.'"

[Die Überlegungen des forschen Sportlehrers, nachdem der Schüler Leo Silberstein vor körperlicher Anstrengung in Ohnmacht gefallen war:] "Schließlich man weiß es ja, wie solch ein harmloser Scherz mit einem jüdischen Schüler von einer gewissen Presse bereitwillig aufgegriffen und aufgebauscht wird. Nur keine Presse, denkt Herr Brosius, nur keinen Skandal. Denn wie alle Menschen seines Standes hatte er eine heillose Furcht vor der Öffentlichkeit."

[Die Selbsteinschätzung des Leo Silberstein vor der Lehrer-Macht:] "Zu Befehl, ich weiß, daß ich nichts bin," [wird von Brosius quittiert mit der Bemerkung:] "Es braucht ja nicht jeder Soldat zu werden. Vielleicht wirst du ein guter Geschäftsmann: Silberstein AG..."

Zeitzeuge Hans Diehl, ein Mitschüler von Glaeser und Sternfels, erzählt:

"Von Ostern 1908 bis Ostern 1917 im Ersten Weltkrieg besuchte ich die höhere Bürgerschule in Groß-Gerau, die während dieser Zeit zur Realschule wurde, mit Abschluß des sogenannten Einjährigen. Zu meiner Klasse kam Ostern 1911 - Sexta - ein Mädchen und ein Junge jüdischen Glaubens. Erna Guckenheimer war die Tochter von Adolf Guckenheimer, Inhaber der großen Baustoffhandlung Ecke Walter-Rathenau-Straße und Jahnstraße. Julius Sternfels kam von Erfelden, er war von schwächlicher Natur. Sein Vater hatte ein Ladengeschäft in Textilien. Unser Klassenkamerad Ernst Glaeser, der später mit seinem im Jahre 1927 geschriebenen Roman ,Jahrgang 1902' ein bekannter Schriftsteller wurde, hat ihn erwähnt. Er wird von seinem Turnlehrer bei einem Schwächeanfall unmenschlich behandelt. Dies ist aber frei erfunden. Er bemühte sich sehr um ihn, sorgte dafür, daß er sofort in ärztliche Behandlung kam. Unser Turnlehrer war in diesem Schuljahr (Jahrgangsbericht ist vorhanden) der jüdische Lehrer Simon Schwarz. Aus gesundheitlichen Gründen mußte Julius Sternfels im nächsten Jahr den Schulbesuch aufgeben.

In der nachfolgenden Klasse war Else Marx, Tochter von Salomon Marx, Inhaber einer Mehl- und Futtermittelgroßhandlung. Ihr ältester Bruder Fritz fiel im Ersten Weltkrieg. Das Wohnhaus in der Frankfurter Straße war bis vor einigen Jahren die Gaststätte ,Gerauer Hof'. In der vorherigen Klasse war Paul Oppenheimer. Sein Vater war Teilhaber der großen Eisen- und Landmaschinenhandlung in der Mainzer Straße, heute Kaufhaus Süß. Else Marxsohn war die Tochter des Teilhabers der ,Union-Brauerei' Ferdinand Marxsohn. Sie heiratete den Regierungsrat Dr. Wolff, der Ende der zwanziger Jahre Stellvertreter des Kreisdirektors Dr. Marck war. Die Trauung war in der hiesigen Synagoge."

Klassenfoto der Groß-Gerauer Untersekunda am 2. 9. 1916 (Sedanstag). Ort: Steg am "Kamel", Apfelbach. Erna Guckenheimer, 6. von links.

Schlußball der Tanzstunde 1920. Klara Flörsheimer (1. Reihe, 3. v. links) und Heini Hirsch (2. Reihe, 5. v. rechts)

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