Antisemitismus im 19. Jahrhundert

Im 19. Jahrhundert wurden die Aufnahmegesuche der Juden insgesamt positiver beantwortet als in dem Jahrhundert zuvor (Urkunden von 1857 bis 1863). Sie begannen, mit Eisenwaren zu handeln (1815) und mit Mehl (1813). Jüdischen Metzgern war es allerdings untersagt worden, Fleisch im Handel zu verkaufen (1876). 1827 gründeten die Juden Geraus einen Verein, der es auf sich nahm, bedürftige Bräute mit einer Mitgift auszustatten. 1914 gehörten diesem Verein 116 Mitglieder an. Er besaß ein großes Vermögen, das größtenteils im ersten Weltkrieg und während der Inflation verloren ging. 1927 feierten die Juden das hundertjährige Bestehen dieses Vereins.

Die Juden Groß-Geraus waren gezwungen, sich auch Heiratsgenehmigungen einzuholen und eine Erlaubnis bei Auswanderung aus dem hessischen Hoheitsgebiet. Diese Verordnungen waren bis zum Jahr 1861 gültig (Urkunden dazu von 1858, 1860, 1861). Oft wandten sich die Juden an die Behörden, um die verschiedensten Genehmigungen einzuholen, z. B. Gesuche um Steuerbefreiung oder -ermäßigung; Befreiung von der Pflicht, Soldaten fremder Heere, die in der Stadt stationiert waren, aufnehmen zu müssen; usw. Meist wurde diesen Bitten nicht stattgegeben.

Das Aufkommen des nationalen Antisemitismus in Deutschland am Ende des 19. Jahrhunderts war auch in Groß-Gerau spürbar. Der Gemeindevorstand rief die Juden am 18.01.1881 auf, die Lokalzeitung "Groß-Gerauer Kreisblatt" wegen ihrer antisemitischen Tendenzen zu boykottieren. Ungefähr zehn Jahre später, am 14.05.1891, unterrichtet eine jüdische Zeitung ihre Leser über ein Antisemitentreffen in der Stadt. Drei Jahre später, am 01.12.1894, wird wieder über ein solches Treffen berichtet: 43 Menschen nahmen daran teil, und ein Mann namens Bindwald hielt eine Rede. Fünfzehn Jahre später, am 30.04.1909, berichtet die jüdische Presse über eine Friedhofsschändung: Ein 17 Jahre alter Schmied und sein Bruder zerstörten 42 Grabsteine. Der junge Mann wurde vom Gerichtshof in Darmstadt zu einem Jahr und drei Monaten Gefängnis verurteilt. Am 5. Dezember 1918, kurz nach Beendigung des ersten Weltkriegs, wird wieder über eine Friedhofsschändung berichtet, wieder wurden Grabsteine zerstört. Es stehen uns keine überprüften Kenntnisse über antisemitische Vorkommnisse während der genannten Zeiträume zur Verfügung, aber man kann davon ausgehen, daß innerhalb dieser Periode, also Ende des 19. und Anfang des 20. Jahrhunderts, der Antisemitismus in Groß-Gerau keine Ausnahmeerscheinung gewesen ist. Die Gründung des Vereins zur Abwehr des Antisemitismus, ein Verein, der vielfältiges Informationsmaterial an die breite Öffentlichkeit verteilte, weist auf die Existenz des Antisemitismus in Hessen hin.